Donnerstag, 10. August 2017


'VISIONEN' 1998



Unser Dasein ist einer fortschreitenden Rationalisierung unterworfen. Das Zweckmäßige beeinflusst das äußere Umfeld und beherrscht zunehmend unsere persönliche Intimsphäre. Je enger wir uns eingeengt fühlen, desto mehr drängt es jeden Einzelnen, die auferlegten Zwänge zu durchbrechen, um alternative Lebensformen anzustreben. - Raus aus den übervölkerten Städten, wo grüne Oasen eine Seltenheit sind und Parkanlagen lukrativen Investoren weichen müssen, hin zur unberührten Natur, um nicht an der Beengtheit und Begrenztheit dichtest besiedelter Stadtinnenräume zugrunde zugehen.
  
Dem abstrakten Maler Rolf Friederichs gelingt die Flucht auf rein malerischem Weg. Er genießt das Privileg, sich seine Welt neu zu erschaffen und betrachtet die Kunst als Mittel zur Selbstheilung: Mit einer Malerei, die die eigene Phantasie befügelt und ihn fortträgt in ein Reich, in dem Flüsse unbegradigt, feine Zickzackläufe in die zartgrünen Wiesenauen graben....Wo das reich differenzierte, violett schimmernde Blau an den Glanz südlicher Meere erinnert und weiße Lichter eine glasklare Wasseroberfläche zaubern und den Betrachter tief, bis auf den Grund des Meeres, blicken lassen.

Ist die abstrakte Malerei, weil gegenstandslos, gestaltet oder unterliegt sie im Zweifelsfalle dem Zufall? Friederichs' Werke sind das Gegenteil einer Improvisation aus Linien und Flächen. Sein Pinselstrich ist nicht gefühlsmäßig und willkürlich, sondern präzise und kraftvoll. In unzähligen Aquarellen haben sich im Künstler die Landschaftseindrücke seiner näheren Umgebung verfestigt. Aus diesen 'Seherlebnissen' filtert der Künstler ausschnitthaft Elemente, die die Erfüllung all dessen für ihn beinhalten, was er in Wirklichkeit vermisst. Er selbst nimmt sich halb aus dem Arbeitsprozess zurück, lässt teilweise dem Fluss der Farbe ihren Lauf, um eine Kunst zu schaffen, die halb auf sich selbst gestellt ist und doch Beides in sich trägt: die Natur, ohne sie zu reflektieren und den Künstler, ohne ihn hervorzuheben.

"Die Farbe ist nicht Träger, nicht gesetzt für etwas, sondern Gestalt an sich", beschreibt der Maler Ernst Wilhelm Nay (1902-68) seinen künstlerischen Leitfaden. Auf Rolf Friederichs' Triptychon sind die Farben unterschiedlich in ihrer Form und ihrer Zusammensetzung. Mal präsentieren sie sich nahtlos einfarbig, als an den Seiten  ausgefranste Ebenen, dann wieder quellend, schäumend, rauh wie ein Wasserfall. Auch wenn der Betrachter mit einem ungebrochen, klaren, undifferenzierten Rot konfrontiert wird, wie auf dem mittleren Bild, trügt der Schein des festen Untergrundes. Denn die schwarzen, wie Bleiruten eines Glasfensters auf der Rotfläche lagernden Linien schaffen kleine Unebenheiten und deuten durch ihre instabile Lage darauf hin, dass etwas, das im Werden begriffen ist, noch nicht endgültig Gestalt angenommen hat. Alles bleibt in der Schwebe. Der eigentliche Zeitpunkt einer Verfestigung ist nicht erreicht. - Es ist eine andere Komposition, die den Werdeprozess in seinen wichtigsten Grundzügen darstellt und nicht weiter verkürzt werden kann. Mit  wenigen, sich verdichtenden Pinselstrichen bringt der Künstler das Wesentliche auf den Punkt. - Scharf ist die Polarität von Rot und Schwarz herausgearbeitet.      

Anke Friederichs
 



'Visionen' (1998), Triptychon, Acryl auf Leinwand, je 123 x 100 cm